Lithographie als Massenmedium
Erfunden hatte Senefelder das Verfahren nicht für künstlerische Zwecke, sondern um seine „Theaterstücke mit Musik“ selbst vervielfältigen zu können. So war auch sein erster Förderer der Offenbacher Musikverleger Andre, der mit der neuen Methode Musiknoten billiger und schneller als mit dem sonst dafür verwendeten Kupferstich drucken wollte. Der nächste Interessent war der bayrische Staat : Um 1802 begann das Projekt der „Großen Landvermessung“:
Ganz Bayern (später auch die anderen süddeutschen Staaten und dann weiter Richtung Norden) wurde mit den modernsten trigonometrischen Methoden derart vermessen, daß zum ersten Mal eine vollständige Sammlung von Flurkarten entstehen konnte. Das heißt, jedes einzelne Grundstück ist auf diesen Karten eingezeichnet. Noch heute liegt das Ergebnis dieser gewaltigen Aktion im Keller des staatl. Vermessungsamtes in München: Etwa 26.000 Steine im Format 60 x 60 cm. Mittels Kupferstich wäre diese Arbeit nicht zu schaffen gewesen, es hätte viel zu lange gedauert und wäre wahrscheinlich unbezahlbar geworden.
So übernahm zu Beginn die Lithographie einige Aufgaben des Kupferstiches, bevor die beginnende Industrialisierung ganz neue Anforderungen an die Druckereien stellte. Das neue Bürgertum in den Städten brauchte Bildung, aber nicht nur Texte, sondern auch „lebendige Anschauung“: Ansichten von Städten, fernen Ländern, Tieren, Pflanzen, Kunstwerken u.v.m. waren bis dahin nur einer winzigen vermögenden Oberschicht zugänglich gewesen. Das neue Verfahren ermöglichte nun diese Bilder zu erschwinglichen Preisen.
Möglich war die massenhafte Verbreitung vor allem durch den schon im Kapitel „Künstlerische Lithographie“ erwähnten zweiten Kern des Verfahrens, dem Umdruck, der auch von Stein zu Stein funktioniert: Zum ersten Mal in der Geschichte des Druckens war es möglich, eine Druckform sicher und präzise zu duplizieren. Bei diesem von Senefelder Überdruck genannten Verfahren wird ein Abzug auf ein beschichtetes Umdruckpapier gemacht und dieser, solange die Druckfarbe noch feucht ist, mittels Druck, Feuchtigkeit und Wärme auf einen zweiten Stein wie ein Abziehbild übertragen. Bei sauberer Arbeit resultiert ein exaktes Duplikat.
Bis zu dieser Erfindung war die Druckinformation, also das Bild, an die Druckplatte gebunden. War sie abgenutzt, ging auch die Druckinformation verloren, d. h., die Platte war die Information. Mittels Umdruck konnte nun die Information den Träger wechseln. Erst dadurch war die Entstehung einer Druckindustrie möglich. (Später wurden auch für die anderen Druckverfahren Duplizierverfahren erfunden, vor allem im Hochdruck).
Konkret ging man so vor, daß vom Originalstein ein Duplikat hergestellt und davon die Auflage gedruckt wurde. War das Duplikat abgenutzt, konnte ein neues angefertigt werden. Aber der Umdruck ermöglichte noch viel mehr: Für kleinformatige Bilder wie Briefmarken, Etiketten, Spielkarten etc. ist der Druck nur im Nutzen wirtschaftlich, d.h., auf einer Druckform befinden sich viele kleine Bilder, die nach dem Druck auseinandergeschnitten werden. Lithographiert wird das Motiv nur einmal auf einen kleinen Stein. Davon werden z.B. 12 Umdruckabzüge hergestellt, auf einen Bogen montiert und komplett auf einen zweiten, größeren Stein umgedruckt. Von diesem werden wiederum 12 Umdruckabzüge auf einen noch größeren Stein übertragen. Wird dieser gedruckt, ergeben sich so pro Druckgang 144 identische Motive. Mittels Umdruck konnten sogar die Bilder und Texte anderer Druckverfahren in die Lithographie integriert werden: Kupferstiche, Holzschnitte und Holzstiche konnten damit auf den Stein übertragen werden. Wurde viel Text benötigt oder kein Schriftlithograph greifbar, der seitenverkehrt schreiben konnte, wurde Schrift in Blei gesetzt, auf Umdruckpapier abgezogen und so auf den Stein übertragen.
Farbdruck
Anfangs wurden Lithographien auf der Handpresse überwiegend einfarbig schwarz gedruckt und bei Bedarf mit Pinsel und /oder Schablonen nachkoloriert. Zwar war das Prinzip des Farbdrucks durch Übereinanderdrucken mehrerer Druckformen mit lasierenden Farben schon bekannt. Der Druck mit Handpressen und die notwendigen, teuren Fachkräfte ( Die Angehörigen des graphischen Gewerbes waren seit Gutenbergs Zeiten Spitzenverdiener im gewerblichen Bereich) hätten die Drucke viel zu teuer werden lassen. Die wenigen Farblithographien, die dennoch ab etwa 1820 entstanden, waren luxuriöse Ausnahmeerscheinungen.
Erst seit ab 1870 einigermaßen zuverlässig funktionierende Schnellpressen eingesetzt werden konnten, die die Produktivität um das 10- bis 15-fache steigerten, lohnte sich der Mehrfarben-Steindruck. Man nannte das Verfahren Chromolithographie ( von griech. chroma, die Farbe) Je nach Qualitätsanspruch wurde mit 4 bis zu 24 Farben gedruckt, der Durchschnitt dürfte bei etwa 10 Farben liegen. Nun begann die wahre,“bunte Revolution“: Neben den klassischen Buchillustrationen, Bilderbögen, Landkarten etc.bot die lithographische Industrie eine ungeheure Vielfalt an Gedrucktem an: Reproduktionen von Ölgemälden verschiedenster Qualität ( sog. Schlafzimmerbilder), Postkarten, Visitenkarten, Urkunden, Klebesiegel, Buntpapiere für Buchbinderei, Plakate, Verpackungen für alle Arten von Waren, Innenschilder für Zigarrenkisten, Bauchbinden für Zigarren,Wertpapiere, Spielkarten, Kranzschleifen, Sargdekorationen, Modellierbögen zum Ausschneiden, Etiketten aller Art und Größe, Thermometerskalen, Sammelbildchen, Stickvorlagen, Papierblumen, Fächer, Andachts- und Fleißbildchen, Wertmarken, Briefmarken, Rechnungsformulare mit Fabrikansichten, Kataloge aller Art, Kalender, sog. Oblaten ( geprägte, lackierte und ausgestanzte Bildchen fürs Poesiealbum), u.v.m.
Ein eigenes Gebiet war der Abziehbilderdruck. Mit diesem Transferverfahren wurde hauptsächlich Porzellan, aber auch Blech, Holz ( imitierte Intarsien), Bücherschnitte, Glas etc. dekoriert. Blech wurde ab etwa 1870 auch bedruckt, allerdings nicht direkt vom Stein, sondern über einen elastischen Gummizylinder. Blechschilder, Spielzeug, Dosen und andere Verpackungen wurden so ansprechend farbig.
Diese Blütezeit der Chromolithographie ging bis etwa 1920, dann wurde sie langsam vom 1905 erfundenen Offsetdruck abgelöst, was bis in die 50er Jahre dauerte.
Heute werden ca. 90% aller Drucksachen mit diesem Verfahren hergestellt, das zwar mit dünnen Aluminiumblechen arbeitet, im Prinzip aber auf die Erfindung Senefelders zurückgeht.
Der Steindruck und die damit mögliche massenhafte Verbreitung von Bildern aller Art brachte diesen eine zusätzliche, völlig neue Aufgabe: Dienten verbreitete Bilder bis dahin größtenteils der Information, der Unterhaltung und/oder der religiösen Erbauung, übernahmen sie nun mehr und mehr auch die Funktion, Waren zu verkaufen. Die Produktwerbung,die im 19.Jh.mit Plakaten, Verpackungen, Etiketten, Katalogen und z.B.auch Sammelbildchen begann, macht heute den Löwenanteil aller gedruckten Bilder aus.
Der Steindruck brachte die Welt in Farbe für jedermann, was allerdings auch die Wertschätzung farbiger Bilder völlig veränderte: Einst eine Kostbarkeit, heute wertloser Werbemüll für den Papierkorb.